Der mechanische Weihnachtsberg aus Neuwürschnitz

Foto: Museum Europäischer Kulturen, Berlin
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Foto: Museum Europäischer Kulturen, Berlin
Foto: Museum Europäischer Kulturen, Berlin

Der mechanische Weihnachtsberg aus Neuwürschnitz (im Museum Europäischer Kulturen in Berlin)

„Mein Weihnachtsberg, Max Vogel“ – diese handschriftliche Notiz hat er selbst auf dem Schwarzweißfoto hinterlassen. Das Bild von 1930 zeigt den Weihnachtsberg des Neuwürschnitzer Malermeisters Max Vogel. Es ist eine von lediglich zwei erhaltenen Originalaufnahmen.

 

Bereits 1885 hatte Vogel, damals gerade einmal 18 Jahre alt, mit dem Bau seines Weihnachtsberges begonnen. Im Haus in der Teichstraße des kleinen Ortes am Nordrand des Erzgebirges hatte Vogel einen kaum drei mal drei Meter großen Raum für sein Vorhaben. Trotzdem wurde der Weihnachtsberg der größte im Dorf und Anziehungspunkt für viele Nachbarn und Besucher. Erbaut im orientalischen Stil mit mechanischen Elementen und insgesamt ca. 300 Figuren war Vogel mit seinem Berg im Trend der damaligen Zeit. Er schnitzte selbst, verwendete aber auch Figuren von Lößnitzer Schnitzern und aus dem für den Krippenbau bekannten Gebiet um Grulich im Adlergebirge. Neben der biblischen Weihnachtsgeschichte integrierte Vogel, ein tiefgläubiger Mann, auch Szenen aus Passion und Auferstehung Jesu in seinen Berg.

 

Eine Besonderheit war das filigran gedrechselte Pyramidenensemble: Bestehend aus drei Türmen mit zwei Etagen und zwei weiteren flankierenden Drehtürmchen verweist die imposante Tempelpyramide auf das „Himmlische Jerusalem“, wie es in der Offenbarung des Johannes (Die Bibel, Offenbarung 21,2) prachtvoll beschrieben wird. Neben Engeln sind auf der Pyramide auch die zwölf Apostel sowie zahlreiche Bürger der himmlischen Stadt dargestellt. Durch die gegenläufige Drehbewegung der Figuren wirkt die Szenerie besonders lebendig und vermittelt einen Vorgeschmack auf das Leben in Gottes Herrlichkeit wie es sich Max Vogel vorstellte.

 

„Mein Weihnachtberg“ – diese Bezeichnung könnte auch von Karl-Heinz Fischer stammen. Eher zufällig stößt der Berliner Orchestermusiker 1986 auf den Neuwürschnitzer Weihnachtsberg. Eigentlich ist er in der sächsischen Heimat auf der Suche nach einer Geige für seinen Sohn. Fischer liest das Inserat von Volkmar und Andreas Vogel, die aus Platzgründen einen Käufer für den Weihnachtsberg ihres Großvaters suchen. Staatliche Museen, denen der Berg zuvor angeboten wurde, waren an einem Ankauf nicht interessiert.

 

Karl-Heinz Fischer aber hat Interesse. In Neuwürschnitz steht Fischer vor zahlreichen Kisten mit Figuren, Gebäudeteilen, Brettern und Mechanik. Seit 1940, als der Berg zuletzt aufgestellt wurde, lagert alles unter dem Dach. Es gibt keinerlei Dokumentation und niemanden mehr, der den Berg aufgebaut und in Funktion gesehen hatte. Erhalten sind nur ein altes Inhaltsverzeichnis, einige Kartonbeschriftungen und zwei Originalfotos. Karl-Heinz Fischer, der Musiker war und kein Handwerker, zweifelte. Würde er es schaffen, den Weihnachtsberg aus den Fragmenten zu rekonstruieren? Ausgewiesene Experten wie Christian Kobel, der in Brünlos den Weihnachtsberg seines Großvaters weiterführt, halten das Vorhaben für unmöglich. Nach über 40 Jahren auf dem Dachboden war der Berg in einem desolaten Zustand. Fischer sagt trotzdem Ja und kauft für die beachtliche Summe von 30.000 DDR-Mark die Überreste des Weihnachtsbergs von Max Vogel. Was ihn zu dieser mutigen Entscheidung bewogen hat, kann er selbst nicht so genau sagen.

 

1987 zieht der Vogel’sche Weihnachtsberg in die Hauptstadt um. „Jetzt geht der Reichtum aus Neuwürschnitz fort“, kommentiert eine alte Nachbarin die Abholung des Berges. Fischer, der mit seiner Frau und den beiden Kindern in einer Dreiraumwohnung in Berlin-Marzahn wohnt, räumt dafür das Schlafzimmer aus. Der Weihnachtsberg wird fortan zum Familienprojekt der Fischers. Gemeinsam machen sie sich ans Werk und beginnen mit Bestandsaufnahme und Vorrestaurierung. Aber nach zwei Jahren heißt es schon wieder: Kisten packen. Im Juni 1989 verlässt die Familie nach bewilligtem Ausreiseantrag die DDR und zieht nach Nordrhein-Westfalen. Im Gepäck: der Neuwürschnitzer Weihnachtsberg. Es ist ein Neuanfang, für Fischer und für seinen Berg.

 

Nach den noch in Berlin begonnenen Vorarbeiten stehen die folgenden Jahre im Zeichen von Restauration und Rekonstruktion. Unterbau und Mechanik müssen komplett neu hergestellt, die Landschaft neu konzipiert werden. Vorbild beim Wiederaufbau sind die Weihnachtsberge im Schneeberger Museum für bergmännische Volkskunst. Vieles macht er selbst und muss sich die erforderlichen handwerklichen Fähigkeiten dafür erst aneignen. Ein 16 Meter langes Hintergrundbild lässt Fischer von einem Maler aus dem Ruhrgebiet anfertigen. Der Musiker ist sehr darauf bedacht, die ursprüngliche Gestaltung zu rekonstruieren und Max Vogels Handschrift zu erhalten. Vier fehlende Szenen aus der Passions- und Auferstehungsgeschichte Jesu gibt Fischer extra beim Lößnitzer Schnitzer Johannes Strobelt in Auftrag. Altes und Neues soll eine Einheit bilden. Und alle helfen mit: Ehefrau Maritta unterstützt bei der Landschaftsgestaltung, Tochter Peggy bemalt Figuren und Häuser und Sohn René tüftelt in einer eigens dafür angemieteten Garage an der Mechanik und den Landschaftsplatten.

 

Das Mammutprojekt gelingt: Nach fünfjähriger Rekonstruktion, mehr als 11.000 Arbeitsstunden und über 50 Jahre nach der letzten Ausstellung in Neuwürschnitz ist der Weihnachtsberg 1992 im Rathaus der Stadt Marl im nördlichen Ruhrgebiet zu sehen. Durch den Wiederaufbau ist der Berg gewachsen: Mit seinen jetzt 28 Szenen auf 15 m² ist er deutlich größer als im Haus von Max Vogel in Neuwürschnitz. Verpackt umfasst der Berg insgesamt 60 Kubikmeter. Für den Aufbau benötigt Fischer beinahe drei Wochen. Trotz der transportablen Konstruktion wird nach den ersten Ausstellungen klar, dass der Weihnachtsberg einen festen Ort benötigt.

  

So macht sich Fischer auf die Suche nach einem Museum. Ihm ist wichtig, dass der Weihnachtsberg öffentlich zugänglich ist. Anders als die Enkel von Max Vogel in der DDR, wird Karl-Heinz Fischer fündig: allerdings nicht in Sachsen, sondern in Berlin. 1999 kauft ihn die Vorgängerinstitution des Museum Europäischer Kulturen, in dem der Berg einen Platz in der Dauerausstellung bekommt. Per Computer können die Besucher zudem die einzelnen Szenen in Filmausschnitten mit den entsprechenden Bibelstellen nachverfolgen. Das hätte wohl auch Max Vogel gefallen.

Eine ausführliche Beschreibung des Weihnachtsberges und seiner Geschichte ist dem Buch "Ein mechanischer Weihnachtsberg aus dem Erzgebirge" zu entnehmen, welches 2015 im Verlag der Kunst Dresden erschienen ist.

 

Museum Europäischer Kulturen

Arnimallee 25

14195 Berlin-Dahlem

 

www.smb.museum/mek

Tel.: 030 / 266424242